Skip to main content
MrSpinnert von MrSpinnert, vor 13 Jahren
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Franz Josef Degenhardt (* 3. Dezember 1931 in Schwelm, Provinz Westfalen; † 14. November 2011 in Quickborn, Schleswig-Holstein). Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder, so sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor. Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor und in die Kaninchenställe, wo sie sechsundsechzig spielten um Tabak und Rattenfälle, Mädchen unter Röcke schielten, wo auf alten Bretterkisten Katzen in der Sonne dösten, wo man, wenn der Regen rauschte, Engelbert, dem Blöden lauschte, der auf einem Haarkamm biß, Rattenfängerlieder blies. Abends, am Familientisch, nach dem Gebet zum Mahl, hieß es dann: Du riechst schon wieder nach Kaninchenstall. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder! Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt, kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt. Lernte Rumpf und Wörter beugen. Und statt Rattenfängerweisen mußte er das Largo geigen und vor dürren Tantengreisen unter roten Rattenwimpern par coeur Kinderszenen klimpern und, verklemmt in Viererreihen, Knochen morsch und morscher schreien, zwischen Fahnen aufgestellt brüllen, daß man Freundschaft hält. Schlich er abends zum Kaninchenstall davon, hockten da die Schmuddelkinder, sangen voller Hohn: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder! Aus Rache ist er reich geworden. In der Oberstadt hat er sich ein Haus gebaut, nahm jeden Tag ein Bad. Roch, wie bessre Leute riechen, lachte fett, wenn alle Ratten ängstlich in die Gullis wichen, weil sie ihn gerochen hatten. Und Kaninchenställe riß er ab. An ihre Stelle ließ er Gärten für die Kinder bauen. Liebte hochgestellte Frauen, schnelle Wagen und Musik, blond und laut und honigdick. Kam sein Sohn, der Nägelbeißer, abends spät zum Mahl, roch er an ihm, schlug ihn, schrie: Stinkst nach Kaninchenstall. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder! Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt. Man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt. Als er später durch die Straßen hinkte, sah man ihn an Tagen auf ´nem Haarkamm Lieder blasen, Rattenfell am Kragen tragen. Hinkte hüpfend hinter Kindern, wollte sie am Schulgang hindern und schlich um Kaninchenställe. Eines Tags in aller Helle hat er dann ein Kind betört und in einen Stall gezerrt. Seine Leiche fand man, die im Rattenteich rumschwamm. Drum herum die Schmuddelkinder bliesen auf dem Kamm: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder!